Krankenkassen erhalten Akteneinsicht trotz eingestelltem Strafverfahren
BayObLG-Entscheidung schafft Klarheit bei Regressansprüchen nach Schlägereien
Eine wegweisende Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) vom 3. Juni 2025 zeigt: Auch wenn ein Strafverfahren eingestellt wird, können Krankenkassen dennoch vollständige Akteneinsicht erhalten. Dies hat weitreichende Folgen für alle Beteiligten an körperlichen Auseinandersetzungen – selbst wenn keine strafrechtliche Verurteilung erfolgt.
Der Fall: Barschlägerei mit zehn Beteiligten
Ausgangssituation
Im Januar 2023 kam es zu einer Schlägerei in einer Bar mit zehn Beteiligten. Gegen einen der Beteiligten wurde wegen Körperverletzung ermittelt. Da sich der Sachverhalt als nicht aufklärbar erwies, stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen alle Beteiligten nach § 170 Abs. 2 StPO ein.
Der Konflikt entsteht
Nach der Einstellung beantragten zwei Krankenkassen Einsicht in die kompletten Ermittlungsakten, um mögliche Regressansprüche zu prüfen. Die Verteidigung des Beschuldigten widersprach: Bei einem eingestellten Verfahren bestehe kein Recht auf Akteneinsicht.
Die Staatsanwaltschaft argumentierte pragmatisch: Da es sich um bundesweit tätige Kassen handele, wäre eine Auskunftserteilung auf anderem Wege zu aufwendig.
Die Entscheidung: Vollständige Akteneinsicht rechtmäßig
Rechtliche Grundlage: § 474 StPO
Das BayObLG bestätigte die Rechtmäßigkeit der Aktenübersendung und stützte sich dabei auf § 474 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, Abs. 3 und Abs. 5 StPO:
Voraussetzungen für Akteneinsicht:
- Auskünfte an öffentliche Stellen sind zulässig
- Zweck: Feststellung, Durchsetzung oder Abwehr von Rechtsansprüchen
- Regressansprüche fallen unter „Durchsetzung von Rechtsansprüchen“
- Die Kenntnis ist zur Aufgabenerfüllung der Krankenkasse erforderlich
Warum vollständige Akten statt einzelner Auskünfte?
Das Gericht begründete die Notwendigkeit vollständiger Akteneinsicht überzeugend:
Bei Schlägereien ist erforderlich:
- Umfassende Kenntnis aller Erkenntnisse unmittelbar nach dem Vorfall
- Zugang zu Originalquellen und Bildmaterial
- Vollständige Dokumentation der Ermittlungen
Unzureichend wären:
- Nur die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft
- Einzelne, von der Staatsanwaltschaft ausgewählte Aktenstücke
- Beschränkte Auskünfte
Die zivilrechtliche Dimension: § 231 StGB als Haftungsgrundlage
Besonderheit bei Schlägereien
Das BayObLG betonte einen entscheidenden rechtlichen Punkt: Bei Schlägereien mit mehr als zwei Personen greift § 231 StGB i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB.
Das bedeutet konkret:
- Bereits die Beteiligung an einer Schlägerei kann Haftungsgrund sein
- Keine strafrechtliche Verurteilung erforderlich für zivilrechtliche Haftung
- Beweislastumkehr: Der Beteiligte muss beweisen, dass er nicht zur Schädigung beigetragen hat
Hohe Beweisanforderungen für Beteiligte
Wer an einer Schlägerei teilgenommen hat, muss beweisen:
- Kein unmittelbarer Beitrag zur Schädigung
- Kein mittelbarer Beitrag zur Schädigung
- Weder physische noch psychische Beteiligung an der Schädigung
- Oder: Vorliegen von Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen
Praktische Auswirkungen für Betroffene
Risiken auch bei eingestellten Verfahren
Die Entscheidung verdeutlicht: Eine Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO ist nicht endgültig.
Wichtige Konsequenzen:
- Das Verfahren kann jederzeit wieder aufgenommen werden
- Zivilrechtliche Ansprüche bestehen unabhängig vom Strafverfahren
- Krankenkassen können auch ohne strafrechtliche Verurteilung Regress nehmen
- Vollständige Ermittlungsakten stehen für zivilrechtliche Verfahren zur Verfügung
Vorsicht bei Aussagen und Handlungen
Bereits die bloße Anwesenheit bei einer Schlägerei kann rechtliche Konsequenzen haben:
- Zivilrechtliche Haftung möglich
- Hohe Beweisanforderungen für Entlastung
- Krankenkassen haben Zugang zu allen Ermittlungsergebnissen
Was bedeutet das für Sie?
Bei Beteiligung an körperlichen Auseinandersetzungen
Handeln Sie sofort professionell:
- Keine unüberlegten Aussagen gegenüber Polizei oder Staatsanwaltschaft
- Schweigen ist oft die beste Strategie in der ersten Phase
- Rechtsanwaltliche Beratung bereits bei den ersten Ermittlungen
Auch bei Einstellung drohen Risiken
Unterschätzen Sie eingestellte Verfahren nicht:
- Zivilrechtliche Verfahren können Jahre später noch kommen
- Krankenkassen haben umfassende Informationen für Regressansprüche
- Beweislastumkehr macht Verteidigung schwierig
Präventive Rechtsberatung ist entscheidend
Eine frühzeitige, strategische Verteidigung kann:
- Selbstbelastende Aussagen verhindern
- Entlastende Beweise sichern
- Zivilrechtliche Risiken minimieren
- Verfahrensstrategien entwickeln
Fazit: Komplexe Rechtslage erfordert Expertise
Die BayObLG-Entscheidung zeigt: Das Strafverfahren ist nur ein Teil des rechtlichen Problems. Bei körperlichen Auseinandersetzungen entstehen multiple Haftungsrisiken, die auch nach Einstellung des Strafverfahrens fortbestehen.
Zentrale Erkenntnisse:
- Krankenkassen erhalten auch bei eingestellten Verfahren vollständige Akteneinsicht
- § 231 StGB schafft zivilrechtliche Haftung bereits bei bloßer Beteiligung
- Beweislastumkehr erschwert die Verteidigung erheblich
- Frühzeitige anwaltliche Beratung ist unerlässlich
Professionelle Unterstützung bei Körperverletzung und Schlägerei
Sind Sie in eine körperliche Auseinandersetzung verwickelt oder wird Ihnen Körperverletzung vorgeworfen? Zögern Sie nicht!
Je früher Sie handeln, desto besser können wir Sie schützen – sowohl strafrechtlich als auch vor zivilrechtlichen Regressansprüchen.
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